Olaf's Kolumne


12.6.95

Christo verpackt die Love Parade
"Danke, Christo und Jeanne-Claude!"
(Transparent am Brandenburger Tor, 8.7.95)
"Techno war der erste Bereich im sozialen Leben Gesamtdeutschlands, in dem es eine Wiedervereinigung gab."
(Paul van Dyk, in der taz vom 8.7.95)

Was haben Christo und Jeanne-Claude mit Dr. Motte gemeinsam? Nicht viel, möchte man meinen - außer daß sie es beide kurz hintereinander mit extravaganten Aktionen schafften, Hunderttausende in ihren Bann und in die Hauptstadt zu ziehen. Aber sieht man etwas hinter den au- genscheinlich doch so unterschiedlichen Charakter, so findet man doch eine Reihe Gemeinsamkeiten.

Die Termine waren nicht nur nicht abgestimmt, sie hätten ungünstiger kaum liegen können. Ein Großteil der Masse aus allen Teilen Deutsch- lands angereister Raver kam knapp zu spät für einen Kunstgenuß der anderen Art - die Parade der deutschen und internationalen Rave- Bewegung fand gerade einen Tag statt, nachdem der Reichstag wieder nackten Stein zeigte und die so viel bewunderte global-friedliche Partystimmung auf dem Platz der Republik der Normalität der Stadt- reinigung Platz gemacht hatte. Halt, da fällt doch was auf? Richtig, genau diese unbeschwerte Fröhlichkeit und friedliche Feierstimmung aus dem Tiergarten fand sich am Tag danach in Schöneberg und Charlottenburg wieder, wenn auch diesmal von ganz anderen Leuten ange- facht. Über die Stimmung des Publikums konnten die Gazetten nahezu Identisches berichten.
Erinnern wir uns: Das Projekt, von dem Christo seit zwanzig Jahren, seit er den Reichstag zum ersten Mal gesehen hatte, geträumt hat, war ähnlich hoch umstritten wie die zweite, eigentlich wesentlich gewichtigere Frage, ob der Deutsche Bundestag in Zukunft sein Domi- zil darin nehmen solle. Schon die Debatte darüber, damals noch im Bonner Wasserwerk, war ein Novum - ein Parlament befaßt sich statt mit Gesetzesvorlagen, bei denen das Abstimmungsergebnis sowieso schon vorher feststeht, mit aktiver, gelebter Kunst (und nicht nur mit der Frage, wieviel Geld dem Staat die von den jeweiligen Mini- sterien als solche anerkannte Kunst im nächsten Haushaltsjahr wert sei). Der Initiator, so war damals zu hören, war bereits über diese Debatte als solche glücklich, bevor das Ergebnis feststand. Die Dis- kussion war schon zum Teil des Gesamtwerks geworden. Sicher, ent- scheiden mußte die Frage sowieso der Bundestag als Inhaber des Gebäudes, aber rein organisatorisch hätte das dessen Präsidentin auch im Alleingang genehmigen können, wie auch der Bundeskanzler selbst darüber zu befinden hatte, nach welchem Entwurf das neue Kanzleramt vis-…-vis gebaut wird.
Auch um die Love Parade gab es dieses Jahr Streit im Vorfeld. Die eigentliche Frage, die zu entscheiden war, hatte aber nichts mit künstlerischer Einschätzung (darf einem nationalen Symbol wie dem Ku'damm oder dem KaDeWe so etwas zugemutet werden?) zu tun, sondern mit dem niedrigsten aller Probleme, wer nämlich die sowieso noto- risch überlastete Straßenreinigung in diesem Fall bezahlen soll. Da haben wir sie endlich wieder, diese charakteristische Ausprägung po- litischer Kultur, auf die Deutschland mit Recht so stolz sein kann. Immerhin wurde diese Frage nicht auch noch im Abgeordnetenhaus de- battiert - die Senatsverwaltung entschied alleine und ließ so man- chen großkoalitionären Senator an jenen Vogel mit dem besonders be- weglichen Nackengelenk erinnern, der an nicht allzu entferntem Ort vor Jahren Furore machte. Lachende Dritte in diesem Fall, selten ge- nug, die jüngere Generation, der die Mehrzahl der Raver zugehört. Ob dafür nun doch nur der Wahlkampf, der einfach nicht in Gang kommen will, verantwortlich ist, sei dahingestellt.
Das Ergebnis ist bekannt: In beiden Fällen mußte am Ende die Klein- geisterei doch zurückstecken. Beidesmal wurde das Projekt ein Erfolg auf ganzer Linie, und beidesmal konnte die lokale Presse jubeln: "Hier sieht man, wie Berlin zur Metropole wird." Was es angesichts einer kalten Schulter gegenüber Christo und Jeanne-Claude wie auch gegenüber Dr. Motte und seinen Mitstreitern jedenfalls nicht wäre, wenn auch zumindest in letzterem Fall vermutlich außer etwas "Szene" kein Hahn mehr danach gekräht hätte. Jedoch, so konnte man am Sonn- tag sehen, ist diese Szene keine vernachlässigbare Größe mehr, je- denfalls nicht, wenn man ihre Anzahl zum Maßstab nimmt - die Love Parade 95 war die größte Demonstration, die je in Deutschland statt- gefunden hat, sie brachte mehr Menschen auf die Straßen als der Fall der Mauer oder auch bisherige Friedensdemonstrationen.

Demonstration? Ja - und hier zeigt sich die eigentliche, die tiefge- hende Botschaft von der Geistesverwandtschaft des verhüllten Reichs- tags mit den ob der Hitze die Hüllen eher fallen lassenden Techno- Anhängern. Beide Aktionen sind auf den ersten Blick so unpolitisch, wie so etwas nur sein kann. Die Großkunstwerke Christo'scher Aus- prägung sind pure Ästhetik, wenn auch einer etwas sperrigen Natur. Das ganze politische Drumherum entzündete sich auch nur daran, daß der Künstler zielsicher ein Gebäude ausgesucht hatte, welches neben seiner architektonischen Eignung für ein solches Projekt eben auch ein nationales Symbol darstellt. Auf der anderen Seite treibt die Techno-Generation in erster Linie doch die pure Lust am Feiern auf die Straßen; das Motto "Peace on Earth" klingt gerade wegen seiner selbstverständlichen Beliebigkeit etwas aufgesetzt, und an religiöse Untertöne darin denkt (zu Recht) schon gar niemand.
Allerdings muß man offenbar die Reichstagsverhüllung wie auch die Love Parade miterlebt haben, um diese Botschaft zu verstehen. Gerade dieser "unpolitische" Charakter ist es letztlich, der aus dem einen wie auch dem anderen Happening eine hochpolitische Aussage macht: Das ist es, was die Menschen wirklich wollen - ein Erlebnis von Kunst und Gemeinschaftsgefühl; Friede, Freude und Eierkuchen, wie Dr. Motte mit dem gerade noch erträglichen Maß Selbstironie defi- nierte; wer tanzt, schießt nicht. Das Wort "nur" im berüchtigten Satz "die wollen ja nur ihren Spaß haben" hat mit voller Absicht et- was Abqualifizierendes, und genau dagegen wendet sich die Abstimmung mit den Füßen zum scheinbar unpolitischen Ereignis hin. Solche Mas- sen in dieser Weise zu mobilisieren, kann durchaus als etwas Außergewöhnliches angesehen werden. Man kann auch getrost davon aus- gehen, daß der Großteil der unkonventionellen Friedensdemonstranten es wirklich ernst meint - die Techno-Szene erstaunt Außenstehende immer wieder durch ihre absolute Gewaltfreiheit, die so gar nicht zu der aufs erste Hinhören aggressiv klingenden Musik zu passen scheint.
Was das Außergewöhnliche letztlich zum wirklich Besonderen erhebt, ist das Erleben solcher Ereignisse durch diejenigen, die mitmachen, wobei das "Mitmachen" eben auch diejenigen ergreift, die "eigent- lich" nur zusehen. Wie, das läßt sich an der Polizeistatistik ermit- teln - eine Viertelmillion Menschen auf einem Platz gedrängt zu fin- den ist selten, dabei keine ernsthaften Zwischenfälle zu haben ist denkwürdig. Und das, obwohl nahezu jeder Laternenmast entlang der Paradestrecke von mehreren Leuten bestiegen wurde, ohne Seil und Bergsteigerausrüstung. Die Polizei konnte es beim Zusehen aus Di- stanz in gebührend geringer Anzahl bewenden lassen, die Sa- nitätskräfte bekamen selten Schlimmeres als Hitzschläge zu behan- deln. Ähnliches war bereits in den vorhergehenden Wochen zu beobach- ten - der Platz der Republik zeigte sich transformiert in eine Zone der Ruhe und des Friedens, sogar ohne daß das jemals als offizielles Motto ausgegeben worden wäre. Die extravagante Aktion eines einzel- nen Künstlerpaars wurde unvermittelt zum Volksfest und hier auch durch den politischen genius loci zur Demonstration. Und die ganz normale Wohnbevölkerung reagierte in beiden Fällen mit der gebote- nen, aber leider nicht selbstverständlichen Gelassenheit.

Im Grunde genommen lassen sich beide Aktionen der Kunstform "Happe- ning" zuordnen. Nicht nur daß es sich von vornherein - auch bei Christo, der die Vergänglichkeit seiner Werke ausdrücklich als Teil des Konzeptes ansieht - um Vorübergehendes handelt, hier wird auch der "Zuschauer" mit einbezogen und somit selber zum Akteur. Und trotz aller Vergänglichkeit bleiben die Spuren. Wie eine Besucherin im Fernsehen sagte, wird der Reichstag, jener aus jeder Ritze den höchst gemischten Dunst der Geschichte atmende Monumentalklotz, nie wieder wie vorher sein (wobei die neue Kuppel, die Norman Foster dem Symbol politischer Ambivalenz aufsetzen wird, den geringeren Anteil hat). Und das gilt auch für die Besucher. Genauso wie für die Teil- nehmer, hier handelt es sich ja von vornherein nicht nur um Besu- cher, der Love Parade - es ist eben mehr als das gute Gefühl, sich in einer riesigen Menge Gleichgesinnter zu bewegen (obwohl oder ge- rade zumal ein vermutlich beträchtlicher Anteil dieser Leute im restlichen Leben mit der besonderen musikalischen Vorliebe, durch die diese Szene überhaupt erst auffällt, eher aneckt). Es greift auch auf den Rest der Bevölkerung über. Das Caf‚ Kranzler verzichte- te, ganz großstädtisch-berlinisch, auf eine vorbeugende Verrammelung des Ladens am Samstag mittag und ließ seine regulären Besucher den Ansturm von Ravern in Kauf nehmen. Statt sich angewidert abzuwenden, nahmen diese es mehrheitlich mit einem Lächeln hin. Wie der Reichs- tag, ob nun mit oder ohne die Hüllen, nicht in isolierter Form auf einem Platz steht, sondern Teil der Stadt ist, konnte man auch auf der Love Parade beobachten, daß sich diese Szene nicht etwa als ge- schlossene Gesellschaft abkapselt. Es gehört dazu, auch die Anwohner und Passanten einzubeziehen, von denen darauf mit erstaunlich wenig Murren reagiert wurde. Nicht immer stößt ein solches Maß an Chaos auf so wenig Abwehrreaktionen.
Ob nun die bildende Kunst der Verhüllung oder die Techno-Musik - beides erscheint auf den ersten Blick als eher abschreckende geheim- sprachliche Ästhetik, zu der kein unmittelbarer einfacher Zugang zu finden ist. Beides erschließt sich erst bei näherem Hinsehen bzw. -hören respektive durch Verinnerlichen der Lebenseinstellung, die letztlich solche Werke hervorzubringen erst in der Lage ist. Beides hat dann aber das Potential, diejenigen Menschen, die die nötige Of- fenheit ihres Bewußtseins mitbringen, in seinen Bann zu ziehen (und erzeugt trotzige Abwehrhaltung bei den anderen, die sich aber damit dann in der Öffentlichkeit als kleinkariert blamieren - höchste po- litische Ämter nicht ausgespart). Beides stellt sich auch zum herge- brachten Kunst-Establishment quer. Letzteres zeigt sich beispielhaft auch am Umgang mit dem Geld unkonventioneller Künstler, die ohne je- de Fördermittel auskommen. Der eine finanziert das Liebhaberprojekt aus eigener, von vergangenen Erfolgen gut gefüllter, Tasche vor und läßt die Zukunft entscheiden, ob und wie sich die Kosten decken las- sen. Diese Art des Verzichts auf den Subventionsbetrieb der offizi- ell-öffentlichen Kunstszene weckt natürlich bei den gleichen Feuil- letonisten in der Regel Bewunderung, die den Ausweg des weniger fi- nanzkräftigen DJs von der Ecke, die Finanzierung durch Sponsoring, als "Ausverkauf" diffamieren. Letztlich tun jedoch beide auf ihre Weise das Richtige, wenn man es am Effekt mißt. Und das muß man, da sich solche Kunst eben nicht im luftleeren Raum bewegt, sondern wie beschrieben erst die Wirkung auf das Publikum das eigentliche Kunst- werk darstellt. Und die Sponsoren haben gerade im Gegensatz zu ver- gangenen Jahren gelernt, sich vornehm im Hintergrund zu halten. Ei- nem Tabakwarenhersteller, der Hunderttausende Raver bei sengender Sonnenhitze kostenlos mit Wasser (in als Souvenir geeigneten Mehr- wegbechern) versorgt, kann man auch zubilligen, am Rande der Strecke Zigaretten zu verkaufen. Den Imagegewinn kann auch ein Gegner der Reklameindustrie wie der Autor dieses Beitrages noch verkraften. Die Omnipräsenz der PKW-Hersteller in der organisierten Rockmusik, um ein anderes Beispiel sponsorfinanzierter Kulturszene anzuführen, hat mittlerweile deutlich schlimmere Züge angenommen, vom durch und durch kommerziellen Charakter des Musicaltheaters ganz zu schweigen.

Christos Reichstag - nur ein Marketing-Gag, um eine mittlerweile reichlich abgegriffene verschrobene Idee eines Einzelnen im Gespräch zu halten, wie es aus Richtung Wasserwerk schallte? Aber nicht doch. Genausowenig ist die Love Parade, wie vereinzelte Protestierer ver- suchten dagegenzuhalten, die Business-Parade der Hersteller von Tex- tilien und legalen harten Drogen. Nein, beide Aktionen treffen das ursprüngliche Wesen der Kunst als Medium direkt vom Herzen zu vielen anderen Herzen. Daß Christo und Jeanne-Claude ihr vielleicht gar nicht so geplantes Ziel erreicht haben, Glück und Freude in eine aufstrebende Stadt und ein Volk, das miefiger kaum sein könnte, zu bringen, ist bereits jetzt evident. Und wenn auch nur auf einen Nicht-Raver nach der Love Parade etwas von dem kollektiven Glücksgefühl übergesprungen ist, was sich hier manifestierte, hat Dr. Motte dieses Ziel auch erreicht.
Und das ist, die Hardcore-Ökologen mögen mir verzeihen, dann doch ein höherer Wert als die Debatte um die Frage, wer denn morgen den Müll wegräumt.
[Copyright 1995 Olaf Titz; Nachdruck und Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.]

Olaf Titz, 95/10/12